Der Baum der Schamanen
Alle großen Kulturen des Altertums haben ihre Vorstellungen von der zentralen Säule der Welt auch auf das Symbol des Baumes übertragen. Damit wurde er zum Weltenbaum oder Lebensbaum der Menschheit. Wir finden deshalb in den Mythen fast aller Völker der Erde das Bild des kosmischen Baumes, dessen Stamm als Mittelpunkt und Zentrum der Welt den Himmel trägt. Er verbindet die verschiedenen Welten miteinander, den Himmel, die Erde und die Unterwelt. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man sagt, daß das Sinnbild des Baumes vielleicht das grundlegendste, gewaltigste und älteste aller Ursymbole der Menschheit ist. Besonders aufschlußreich ist das Symbol des Baumes der Schamanen.

Wie wir beim Bild der Weltensäule schon hörten, hat auch der Weltenbaum der Schamanen durchgängig in eigentlich allen Kulturen die Aufgabe, die drei kosmischen Regionen des Himmels, der Erde und der Unterwelt zu verbinden und bildet dabei das Zentrum der Welt, die Weltenachse. Der Baum hat auch die Funktion der Himmelsleiter, die es dem Schamanen ermöglicht, sich von einer Ebene der Wirklichkeit in eine andere zu begeben.
In der Naturreligion des Schamanismus sind die Bilder, die im Zusammenhang mit dem Symbol des Baumes stehen, sehr vielfältig. So gab es Völker, die glaubten, daß es drei solcher Weltenbäume gäbe, jeweils einer im Himmel, einer auf der Erde und einer in der Unterwelt. Häufig findet sich auch die Vorstellung, daß in den Wipfeln des Baumes neue Schamanen heranwachsen und daß auf den Zweigen in Vogelgestalt die Seelen der noch ungeborenen Kinder zu finden sind.
Der Schamane besteigt diesen Baum rituell während seiner Initiationsphase. Ist seine Lehrzeit dann abgeschlossen, besteigt er ihn tatsächlich im Aufstieg zum Himmel, wobei der Baum häufig so beschrieben wird, daß er sieben oder auch neun Äste hat, die einer ebensolchen Anzahl von verschiedenen Himmeln entsprechen. Diese werden von geistigen Wesen, Gottheiten und Göttern bewohnt, dabei wohnt der höchste Gott auch im höchsten Himmel.
Für seinen Weg in den Himmel oder auch in die Unterwelt, die ebenfalls von Geistwesen bewohnt wird, benötigt der Schamane sein wichtigstes Instrument, die Schamanentrommel. Er benutzt sie sozusagen als Fahrzeug in die anderen Sphären der Wirklichkeit. Hierzu schneidet er sich aus der irdischen Entsprechung des Weltenbaumes, häufig ist dies eine Birke, das Holz zur Herstellung seiner Schamanentrommel. Sie ist dann nicht nur das Abbild des kosmischen Baumes in seinen Händen, er verwandelt dieses Phallus-Symbol, den Baum (männlich) in ein Yoni-Symbol, die Trommel (weiblich).
Im Vorgang des Trommelns wird die Schamanentrommel (Yoni) durch den Schlegel (Linga) stimuliert, Shiva und Shakti vereinigen sich bei jedem Trommelschlag, und von der so entwickelten schöpferischen Energie getragen, beginnt der Schamane in Trance seine Reise aufwärts oder abwärts des Baumes hin zu den verschiedenen Ebenen der Schöpfung.
Die ihm durch die Trommel zufließende Energie gibt ihm auch die Kraft, nicht nur den Prüfungen und Anfechtungen zu widerstehen, mit denen ihm die Götter, Geister und Dämonen zunächst begegnen, deren Unterstützung er sucht, sie gibt ihm auch die Macht über die entsprechenden Wesenheiten, die aufgesucht werden. Dadurch kann der Schamane dann auch gewährleisten, daß die erstrebte Hilfe von ihnen auch gewährt wird.

Quelle: Ulrich Wendlandt, Der Weg der alten Zauberer - Vom Ursprung magischer Stäbe, Cersken-Kanbaz-Verlag