Der Blinddarm - das Chamäleon der Chirurgie
Dr. Richard Wagner
Den Anfang des Dickdarms im rechten Unterbauch nennt man Blinddarm. Nicht er entzündet sich bei der im Volksmund " Blinddarmentzündung " genannten Erkrankung, sondern der ihm anhängende " Wurmfortsatz ", lateinisch " Appendix vermiformis ". Der Arzt spricht daher bei einer Entzündung des Wurmfortsatzes von einer "Appendizitis".

Vom Beschwerdebild her beginnt eine Appendizitis oft mit Schmerzen beziehungsweise einem Druckgefühl im mittleren Oberbauch, welches sich in den rechten Unterbauch verlagert.
Die Schmerzen sind eher konstant als krampfartig. Es tritt Fieber auf, wobei die Differenz zwischen der in der Achselhöhle und der im Enddarm gemessenen Körpertemperatur über 0,5 Grad liegt. Einige Entzündungswerte (zum Beispiel die weißen Blutkörperchen) steigen an.
Es können Übelkeit und Erbrechen, gelegentlich auch Durchfall auftreten.
Der rechte Unterbauch ist druckschmerzhaft. Auch das Anheben des gestreckten rechten Beines kann Schmerzen im rechten Unterbauch auslösen. Bei einem Fortschreiten der unbehandelten Erkrankung nehmen die Beschwerden zu; auch geringe Erschütterungen, wie sie beim Gehen beziehungsweise Beklopfen des rechten Unterbauches auftreten, werden als sehr unangenehm empfunden.
Die Schmerzen können auch in den linken Unterbauch ausstrahlen. Bei Durchbruch der Entzündung in die freie Bauchhöhle treten diffuse Bauchschmerzen auf, es kann zu einer ausgebreiteten Bauchfellentzündung kommen, ein sehr schweres und unter Umständen auch heute noch tödlich verlaufendes Krankheitsbild.

Manchmal sind die Beschwerden leider nicht so klassisch "lehrbuchhaft", so dass die Diagnose mitunter, was Laien verblüffen mag, schwer fällt.

Nicht immer befindet sich nämlich der Wurmfortsatz des Blinddarms genau an einem bestimmten Punkt im rechten Unterbauch. Vielmehr kann er bereits durch häufig vorkommende mehr oder minder ausgeprägte Normvarianten der Dickdarmlage ca. 5 cm weiter kopf-oder beckenwärts liegen.
Bei noch deutlicherer Verlagerung hängt er bis tief ins kleine Becken (bei Frauen also zum Beispiel hinter Gebärmutter und rechtem Eierstock) oder liegt unterhalb der Leber im rechten Oberbauch.
In extremen Ausnahmefällen (völlige Fehldrehung des Dickdarms) kann der Blinddarm/Wurmfortsatz sogar im linken Mittel- bis Unterbauch liegen.

Auch die Position des Wurmfortsatzes zum Dickdarm kann variieren: er kann gelegentlich auf, neben oder sogar, nach kopfwärts umgeschlagen, hinter dem Dickdarm liegen.

Letztlich ist auch die Länge des Wurmfortsatzes nicht konstant. Kleine Exemplare sind nur wenige Zentimeter, große hingegen bis zu 20 Zentimeter lang.

So kann allein schon durch die beschriebenen Varianten die Symptomatik stark unterschiedlich ausfallen.

Auch das Lebensalter spielt eine Rolle.
Je älter der Erkrankte ist, um so geringer können auch die Symptome ausgeprägt sein, so dass das Krankheitsbild insbesondere bei älteren Menschen unterschätzt werden kann.

Dadurch, dass die Organe in der Bauchhöhle sehr dicht beieinander liegen, kann eine Entzündung des Wurmfortsatzes, insbesondere bei atypischer Lage, eine Reihe anderer Krankheitsbilder imitieren, so z.B. bei Lage im kleinen Becken (bei Frauen) eine Eierstockentzündung, bei Lage im rechten Oberbauch eine Gallenblasenentzündung.
Auch eine Verwechslung mit Dünn- und Dickdarmerkrankungen beziehungsweise -entzündungen ist möglich.
Bei atypischer Lage hinter dem Dickdarm liegt der entzündete Wurmfortsatz sehr nahe beim Harnleiter, so dass eine Verwechslung mit einem Harnwegs- beziehungsweise Niereninfekt vorkommen kann, zumal in diesem Fall die Beschwerden auch in den Rücken oder die Flanke ausstrahlen können.

Umgekehrt kann es auch sein, dass andere Erkrankungen der Bauchhöhle eine etwas untypische Symptomatik zeigen, so dass zu Unrecht an eine "Blinddarmentzündung" gedacht wird.

Ob eine akute Entzündung des Wurmfortsatzes vorliegt oder nicht, kann nie anhand einzelner Kriterien (z.B. Höhe der weißen Blutkörperchen) entschieden werden, vielmehr müssen sämtliche verfügbaren Fakten (Vorgeschichte, Verlauf, körperlicher Befund, Laborwerte usw.) ein Gesamtbild ergeben.

Liegt allerdings ein hinreichend begründeter Verdacht auf eine "akute Appendizitis" vor, muss gehandelt, d.h. operiert werden.

Da es sicherlich immer besser ist, einen "unschuldigen" Wurmfortsatz zu entfernen statt einmal eine akute Entzündung zu übersehen, gilt hier im Gegensatz zur Rechtsprechung:

Im Zweifel gegen den Angeklagten - d. h. gegen den Blinddarm!
 
 
 
http://www.wdr.de/radio/wdr2/westzeit/medizin000927.html