Feen

Um den Inhalt des in den verschiedenen Ländern vorkommenden Feenglaubens in eines zusammenzu- fassen, so sind die Feen übermenschliche, wenn auch nicht ewig, so doch überaus lange lebende, weibliche Wesen, bald gut bald böse, im ersten Falle ausgeschmückt mit allen Reizen des Körpers und des Geistes, über alle Begriffe schön und ewig jung, aller weiblichen Künste vollendete Meisterinnen, bereit, dem unterdrückten zu helfen, den Irrenden auf den rechten Weg zu leiten, mittelst ihres Zauberstabes das Unmögliche möglich zu machen, und immer diese hohe Kraft so anzuwenden, wie es der geläuterte Wille eines höheren Wesens tun soll. 

Die bösen Feen sind von allem diesem das Gegenteil, bis auf die Macht, welche sie besitzen, und welche nicht selten die der guten übertrifft, obwohl sie nicht im Stande sind, was eine von ihnen geschaffen, geradezu ungeschehen zu machen oder aufzuheben, doch stark genug, die beabsichtigte Wirkung zu hemmen.

Die Feen rüsten ihre Lieblinge oft mit Zauberkräften, mit glückbringenden Eigenschaften, Verstand, Schönheit, Mut, nicht selten aber auch mit sehr unangenehmen Geschenken aus, welche man nur unter gewissen Bedingungen los werden kann; sie treten einander oft auch entgegen und bekämpfen sich, und aus diesen Vorstellungen entwickelte sich die ganze Maschinerie der Feen - und Zauberromane des Mittelalters, an denen Deutschland, Frankreich, England, Spanien, Italien so reich sind. Die Feen Fanferlüche, Morgana, Estercelle, Melusine und andere kommen bei der Tafelrunde, dem Artus-Hof, Amadis von Gallien, dem rasenden Roland häufig vor.

Hier noch einiges Einzelne aus dem Reiche des Feen-Glaubens:

In den französischen Pyrenäen glaubt man, daß, wenn man Flachs auf die Schwelle einer dortigen Feengrotte lege, die Feen ihn in einem Augenblick in das feinste Gespinst verwandeln. In der Neujahrsnacht besuchen die Feen die Häuser, deren Bewohner an sie glauben, und bringen mit der rechten Hand Glück, mit der linken Unglück. Man rüstet in einem abgelegenen Zimmer, dessen Fenster und Türen man öffnet, ein Mahl für sie zu, indem man den Tisch mit weißem Tuch deckt, und ein Brot und ein Messer, eine Schale voll Wasser oder Wein, und eine angezündete Kerze darauf setzt. Wer sie am Besten bewirtet, darf hoffen, daß er eine reiche Ernte haben und sein Liebchen zum Altare führen werde; wer aber diese seine Schuldigkeit nur ungern erfüllt, hat die schlimmsten Gefahren zu befürchten. Am Neujahrsmorgen versammelt sich die Familie um jenen Tisch, der Hausvater bricht und verteilt das Brot, das man in die aufgestellte Schale taucht und dann als Frühstück zu sich nimmt; hierauf wünscht man sich Glück zum neuen Jahr.

In Hochschottland glaubt man, daß es gefährlich sei, den Namen der Feen auf den Bergen, die sie bewohnen, und wo sie besonders gerne die Jagd üben, auszusprechen; man kann dafür von ihnen entweder auf immer oder auf einige Zeit aus dem Lande der Lebendigen entrückt werden. Besonders sind die Kinder im freien Felde den Nachstellungen der Feen ausgesetzt. Die Feen sind geschickte Geburtshelferinnen, Ammen und Kinderwärterinnen; sie erscheinen hilfreich bei den Gebärenden, legen sogar das Kind an ihre eigene Brust, kehren zu dessen Wiege zurück, und pflegen seiner während des Schlafes, oder in Abwesenheit der Mutter. Daher bittet man sie zu Paten und bereitet ihnen einen Ehrensitz am Tische. Sie verkünden des Kindes Schicksal im Voraus, meist wohlwollend, doch eine von ihnen scheint gern Bitteres einzumischen.

In der Franche-Comté kennt man eine Fee Arie, welche bei ländlichen Festen, namentlich in der Erntezeit, erscheint, und die fleißigen Schnitterinnen belohnt; guten Kindern läßt sie das Obst von den Bäumen fallen, und teilt ihnen zu Weihnachten Nüsse und Kuchen aus, wie die deutsche Frau Holda (Holle). Anderwärts erscheinen die Feen als Riesenjungfrauen, die ungeheure Felsblöcke auf dem Kopf und in der Schürze tragen, während sie mit freier Hand ihre Spindel drehen. Als eine Fee, welche einen Bau ausführte, damit zu Ende war, rief sie ihren Schwestern zu, mit Herantragen aufzuhören; diese, obgleich zwei Meilen entfernt, hörten den Ruf und ließen die Steine fallen, die sich tief in die Erde senkten; spannen aber die Feen nicht, so trugen sie vier Steine auf einmal. Täuschen lassen sie sich nicht; denn als einmal ein Mann die Kleider seiner Frau anzog und das Kindes pflegte, sagte die eintretende Fee sogleich: Nein, du bist nicht die schöne Frau von gestern Abend; du spinnst nicht, ich sehe keine Spindel bei dir. Um ihn zu strafen, verwandelte sie die auf dem Herde kochenden Äpfel in Erbsen.

Am Samstag ist die Macht der Feen aufgehoben, daher irren sie an diesem Tage in allerlei Gestalten umher und suchen sich aller Augen zu entziehen; sie können in einem Pferd, einem Baum, einem Schwert, einem Mantel, verborgen stecken, und dies ist der Ursprung des Glaubens, daß dergleichen Dinge gefeit, das heißt, von einer Fee besessen sein können.

Quelle:  Dr. Vollmer's Wörterbuch der Mythologie aller Völker