Die Geheimbünde des Mittelalters
Nach der erfolgten Christianisierung Nordwesteuropas wurden die Skalden und Barden die Bewahrer der alten Weisheit, und sie versuchten mit allen Mitteln die Essenz des alten Wissens über die sich ankündigende Verdunkelung der Zeit zu retten. Da sie auch die Vermittler der damals bekannten Wissenschaften waren, versuchten sie planmäßig, die alte heidnische Tradition von der Kirche weitgehend unbemerkt in verschlüsselter Form über das geistige Dunkel des Mittelalters hinweg in eine wieder hellere Zukunft hinüber zu retten. Hier sind besonders die Dichtkunst zu nennen, die Architektur, die Naturlehre in Form der Alchimie, die bildende Kunst, die Musikwissenschaft und sogar die christliche Lehre selbst in einigen christlichen Ordensgemeinschaften.
Es entstanden geheime Skaldenorden, die später zum Minnesängerorden wurden. Weitergeführt wurde die Tradition in den Zünften des Meistersanges. Die Deutsche Bauhütte gehörte ebenso zu den Bewahrern der alten Lehre, wie die Deutsche Heroldszunft, der Templerorden, die Feme und andere. In diesen Zusammenschlüssen wurden die alten Mysterien mit den jeweiligen Mitteln dieser Gruppierungen überliefert. Hierbei mußte überaus vorsichtig vorgegangen werden, denn spätestens seit der Zeit Karls des Frankenkaisers wurde es für Menschen lebensgefährlich, sich zu den alten Weisheiten zu bekennen.
Aus diesem Grunde gab es in den Orden jeweils verschiedene Ebenen der Überlieferung. Die exoterische Ebene war für die Öffentlichkeit und die mißtrauische christliche Kirche bestimmt. Auf dieser Ebene war die heidnische Überlieferung nicht zu erkennen. So verherrlichten die Minnesänger auf dieser Ebene in unverfänglicher Weise christliche Überlieferungen, den Heldenmut der Ritter und die Tugend der edlen Frauen, nachdem sie die alten heiligen Überlieferungen inzwischen in einer gewaltigen gemeinsamen Anstrengung umgeschrieben und in ein zeitgemäßes neues Gewandt gekleidet hatten. Sie schmeichelten den Herrschern und standen deshalb in hohem Ansehen bei ihnen. Auf diese Weise konnten sie lange Zeit Einfluß auf den Adel ausüben, ohne daß diesem dies bewußt wurde.
In späterer Zeit waren die alten Weisen sich nicht einmal zu schade die Funktion des Hofnarren einzunehmen,, um ihren Einfluß bei Hofe aufrechterhalten zu können.
Im Geheimen, auf der Ebene der höheren Einweihungsgrade, wurde währenddessen der geheime Schlüssel zum eigentlichen Verständnis der Lieder wachgehalten. Noch lange Zeit gelang es in den Meistergraden der Orden, die alte ursprüngliche heidnische Rezitationskunst der alten Hymnen lebendig zu halten.
So berichtet die Überlieferung von den Meistersängern in Nürnberg, die versuchten, von Kaiser Otto I. die Erlaubnis zu erhalten, wieder nach der alten überlieferten Form zu "singen". Nachdem die Regierung des Reiches auf einen Sachsen übergegangen war, hoffte man bei ihm Verständnis zu finden und die Genehmigung zu bekommen. Jedoch war der Einfluß der römischen Kirche inzwischen so groß geworden, daß Kaiser Otto die zwölf Sänger an den Papst in Rom verwies. Dieser lehnte ihren Antrag nicht nur ab, sondern ließ sie als Ketzer verbrennen.
Im Rahmen der Dichtkunst wurden die alten eddischen Themen in christlichem Gewand neu aufbereitet. Wohl keine dieser Erzählungen hat die Menschen des Mittelalters so sehr berührt, wie die von Wolfram von Eschenbach der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemachte Gralsdichtung im Parzival. Die Geschichte vom heiligen Gral bewegte in jener Zeit das gesamte Europa.
Sie ist vielleicht das großartigste Beispiel einer verschlüsselten Botschaft mit einer ganzen Anzahl von Mitteilungsebenen. In letzter Instanz symbolisiert der Gral dabei die Treue der alten Zauberer zu ihrer heiligen Überlieferung, die sie auch in finsterster Zeit bewahren. Das heilige Wissen selbst, das es zu bewahren gilt, wird mit dem Blute Christi gleichgesetzt, dem Heiligsten des Heiligen der Christenheit. Es steht für das verlorene höchste Wissen, das dem Menschen die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott verheißt.
Eine weitere Möglichkeit, das alte Wissen an die Nachwelt zu überliefern, wurde in den Bauhütten gepflegt. Ähnlich, wie dies im Bau der großen Pyramiden Jahrtausende früher geschehen ist, verschlüsselte man nun die alte eddische Weisheitslehre beim Bau der romanischen und gotischen Bauwerke bei der Planung der Proportionen, der Formen und der Ornamente, die ihren heidnischen Ursprung oftmals kaum verbergen. Nachdem der Druck der Kirche auf alle Reste des alten Denkens nicht zuletzt zur Zeit der Hexenprozesse übergroß wurde, zogen sich die Meister der Bauhütten gänzlich in den Untergrund zurück. Man trennte die Werkmaurerei von der geistigen Maurerei und es bildeten sich die Geheimorganisationen der Bauhütten der freien und befreiten Maurer. Die heute noch bestehenden Freimaurerlogen hatten, bevor sie sich zu machtorientierten Geheimgesellschften wandelten, hier einmal ihren spirituellen Ursprung.
Weiterhin finden wir die Spuren der eddischen Tradition kaum verdeckt in den Symbolen der Heraldik der alten Adelsgeschlechter. Dabei wurden die Wappen von den Malern als Kanäle der Weitergabe des alten Wissens benutzt.
Schließlich muß der Versuch erwähnt werden, die alten Traditionen in den höheren Graden des deutschen Ritterordens lebendig zu halten. Der Orden der Tempelritter hat hier eine besondere Bedeutung, da sein Wirken eng mit der Lehre und den Idealen des heiligen Grals verbunden war. Nach außen wurde er als schlagkräftige Truppe des Papstes verstanden und genoß dadurch lange Zeit dessen besonderes Vertrauen und seinen Schutz, im Inneren wurden hier die höchsten Ideale der alten Weisheit gepflegt.
Unter Vorschiebung fadenscheiniger Gründe wurde der Orden der Tempelritter im Jahre 1312 in Frankreich aufgelöst. In den folgenden Jahren büßten 30.000 Templer ihre Treue zur alten Überlieferung mit dem Leben.

Quelle: Ulrich Wendlandt, Der Weg der alten Zauberer - Vom Ursprung magischer Stäbe, Cersken-Kanbaz-Verlag