Das Kamasutra Teil einer großen Tradition dieser Titel erweckt sogleich erotische Reminiszenzen; auch man es nicht kennt hat, weiß man oder glaubt zu
wissen, daß es sich um eine Abhandlung über die Vielzahl von Liebesstellungen handelt, die in der indischen Überlieferung enthalten sind. Gewiß, das Kamasutra ist eine Abhandlung über die Liebe; es ist vermutlich im dritten
Jahrhundert entstanden, und sein Verfasser, Vatsyayana war ein Brahmane, der faktisch nur eine viel ältere Lehre rekapituliert und zusammengefaßt hat - eine Lehre, die schon in den tausendjährigen Büchern Indiens enthalten war
und außerdem im Alltag praktiziert wurde, im Rahmen des Rituals zur Regelung der Beziehungen zwischen den Menschen. Doch in jenem Land, das eine der großen Zivilisationen unserer Erde hervorgebracht hat, beschränkt sich
der Begriff der Liebe keineswegs auf die Stellungen und Bewegungen im Liebesspiel. Die erotischen Handlungen sind nur das Endergebnis eines ganzen Klimas, einer wahren Liebesparade, in der Augen, Hände, Düfte, Farben,
,Gedichte, Musik und viele andere Zeichen sprechen, als Ausdruck aller Gefühlsnuancen, aller Tonarten des Begehrens und aller subtilen Varianten der Annäherung. Mehr noch: diese »KamaSutras« (Aphorismen über die Liebe)fügen
sich ein in den tiefen Sinn der indischen Religion, sie enthalten Ratschläge für die harmonische Eingliederung der Menschen in die Gesellschaft und auch in die kosmische Ordnung. unter der Herrschaft der Pleiade hinduistischer
Gottheiten, deren jede eine bestimmte Energie symbolisiert, einen Kräftestrom, von dem der richtige Gang unseres galaktischen Systems abhängt. Damit stellt sich diese Abhandlung, ohne sich deswegen als religiöses an die Seite
der Veden, die zu den ältesten uns bekannten heiligen Texten gehören; sie bilden die Grundlage einer der ältesten Religionen der Welt und auch einer der reichsten mit ihrer komplizierten Kosmogonie, ihrer blühenden Mythologie,
ihren Meditationstechniken wie Yoga und Pranayama (Atemkontrolle), nicht zu vergessen den aristokratischen Moralkodex, aus dem der Brahmanismus und das Kastensystem hervorgegangen sind. In Indien sind die Bande zwischen Göttern
und Menschen unlösbar, weil beide demselben kosmogonischen Geflecht angehören: Einzelseele (atman) und Weltseele (brahman) sind miteinander verbunden, ein und demselben Schöpfungsakt entsprungen. Übrigens kommt das Wort »Yoga«
von »yug« = verbinden, verknüpfen, und die Yogaübungen dienen dazu, den einzelnen mit den kosmischen Kräften in Verbindung zu bringen, unser Wort Religion kommt vom lateinischen » religare«, das die gleiche Bedeutung hat.
© Heiner Dustmann
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